|
||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Präambel: Als ich vor kurzem wiederum eine Exkursion auf der Mariazellerbahn machte und mich an der grandiosen Bergstrecke delektierte, konnte ich nicht glauben, dass gleichzeitig in den (beschränkten) Gehirnen mancher PolitikerInnen die Vorfreude auf die Stillegung dieser Strecke herumgeistern sollte. Doch - wenn man den diversen Postings in Fachforen und den Printmedien Glauben schenken will - so scheint dem wirklich so der Fall zu sein. Diese Strecke ist ein "Kleinod", hat Potential - dies kann ich mit Fug und Recht behaupten, der ich doch oft in der Schweiz war und unzählige Bahnen visitiert hatte. Nur es bedarf eines Wollens, ein bisschen Herzblut ist auch nicht schlecht, und wie jedes Unternehmen müssen natürlich auch Anbieter von Verkehrsdienstleistungen bzw. touristischen Leistungen um ihre Kunden werben, mit ihnen kommunizieren. Zumindest diesbezüglich scheint Österreich wirklich tiefstes Entwicklungsland zu sein. Zugbegleiter erzählten mir - wie übrigens auch auf der Ybbstalbahn - dass hier seitens des Bahnmanagements (und der Politik) gar nicht gewollt wird, dass die Bahn erfolgreich ist, oder gar, dass sich die Mitarbeiter vor Ort für die Bahn einsetzen. Es wird ganz im Gegenteil alles versucht, die Strecke hinabzuwirtschaften, um sie zu liquidieren und dann in Folge aus der Bilanz nehmen zu können.
Aber an dieser Stelle vorerst einmal nur ein paar Daten und Fakten sowie Fotos zur Mariazellerbahn - warum ist diese Meisterleistung eigentlich noch nicht unter Denkmalschutz gestellt worden ??
Die Mariazellerbahn ist die einzige elektrifizierte Schmalspurbahn Österreichs, hat eine "bosnischer Spurweite", die - nach heutigem Sprachgebrauch - die niederösterreichische Landeshauptstadt St. Pölten mit dem berühmten steirischen Wallfahrtsort Mariazell auf einer Strecke von 84 km (vorher bis Gußwerk 91 km) verbindet. Räumlich gesehen lässt sie sich in eine Talstrecke (St. Pölten - Laubenbachmühle) sowie eine Bergstrecke mit einer Nordrampe (Laubenbachmühle - Gösing) und einer Südrampe (Gösing - Mariazell) unterteilen. Die an Kunstbauten überaus reiche Bahnstrecke hat eine maximale Neigung von 25 Promille (auf dem aufgelassenen Streckenteil Mariazell - Gußwerk) und erreicht im längsten Tunnel der Strecke, dem 2.369 m langen "Gösingtunnel", den Scheitelpunkt mit 892 m. Nukleus dieser Strecke ist die Verbindung St. Pölten nach Kirchberg an der Pielach, die sogenannte Pielachtalbahn, welche 1898 eröffnet wurde. Erst 1907 war die Strecke nach Mariazell und Gußwerk für den Personenverkehr fertiggestellt worden und somit wird verständlich, dass unter dem Begriff Mariazellerbahn ursprünglich nur die Strecke Kirchberg an der Pielach - Gußwerk bezeichnet wurde. Im amtlichen Jargon hiess die Mariazellerbahn auch "Niederösterreichisch-Steirische Alpenbahn". Lassen wir zum Thema "Mariazellerbahn" aber vorerst den Doyen des altösterreichischen Eisenbahnwesens, Freiherrn Victor von Röll, zu Wort kommen:
"Milestones" der Genese der Eisenbahnstrecken im Kontext mit der Mariazellerbahn inkl. nichtverwirklichter Projekte:
Somit umfasste das von St. Pölten ausgehende und im Kontext zur Mariazellerbahn stehende Schmalspurnetz - welches verwirklicht wurde - eine Länge von 154 Kilometer (grösste Ausdehnung).
Dass dieses Schmalspurnetz ursprünglich nicht nur isoliert als Verkehrsträger für die anwohnende Bevölkerung bzw. Transportmittel für Gewerbe/Industrie sowie als Zubringer für Pilger und Touristen zum bedeutendsten österreichischen Wallfahrtsort Mariazell bzw. das Ötscherland gedacht war, sondern die Marizallerbahn als Teil eines deutlich grösseren Verbindungsnetzes zu sehen ist, belegen die zahlreichen - leider bis dato - unverwirklichten Projekte:
Nicht realisiert wurden weiters die Elektrifizierung des Seitenastes ("Krumpe") Obergrafendorf - Mank - Wieselburg a.d.E sowie eine bereits ab 1908 geplante Anbindung des Ortszentrums von Mariazell (der Bahnhof liegt über 1 km ausserhalb im Ortsteil St. Sebastian). Seit kurzem ist dieses Projekt aber wieder aktuell durch eine geplante Strassenbahnverbindung (Verlängerung der "Museumstramway Mariazell-Erlaufsee") unter Einbeziehung des ab 1988 eingestellten Abschnitts Mariazell - Gußwerk.
Die Betriebsführung der Mariazellerbahn erfolgte in den Anfangsjahren durch die Niederösterreichischen Landesbahnen (NÖLB). Nach deren Zahlungsunfähigkeit übernahmen Österreichischen Bundesbahnen (BBÖ) 1922 den Betrieb und seit 1935 ist die Bahn im Staatseigentum und wird von der Staatsbahn (BBÖ, jetzt ÖBB) betrieben. Die Elektrifizierung der Mariazellerbahn erfolgte bereits 1912 - die Mariazellerbahn ist die einzige elektrifizierte Schmalspurbahn Österreichs. Der eingespeiste Einphasenwechselstrom 25 Hz, 6,5 Kilovolt Fahrdrahtspannung stellt ein Unikat dar und kommt aus einem eigenen Bahnstromnetz im Eigentum der EVN. Ursprünglich kam der Strom aus dem Kraftwerk Wienerbruck, wo der Strom tw. direkt in die Leitung eingespeist wurde, tw. über die Unterwerke Kirchdorf und Ober-Grafendorf eingespeist wurde. Als Ausfallsicherung dienten noch 2 Dieselgeneratoren im Alpenbahnhof St. Pölten. Heute erfolgt die Stromerzeugung und Einspeisung primär über das Kraftwerk Erlaufboden und die Unterwerke (=Umspannwerke) Gösing und Rabenstein mit einer 27KV Leitung als Rückgrat.
Aktuelle Lage / Zukunft: Von der Tendenz, (auf den 1. Blick) unrentable Nebenbahnen stillzulegen, sind auch die Mariazellerbahn sowie die Krumpe leider nicht verschont geblieben. Der Güterverkehr mit Schmalspurwagen auf der Bergstrecke wurde 1988 komplett eingestellt, seit 1999 gibt es auch keinen Güterverkehr mehr mit Rollwagen auf der Talstrecke und der Zweiglinie. Einzig der Güterverkehr auf der Strecke Wieselburg - Gresten prosperierte gewaltig durch die Ansiedlung eines Eisen verarbeitenden Betriebes, wodurch allerdings aus Kapazitätsgründen der Personenverkehr auf diesem Abschnitt 1992 eingestellt wurde. Als weitere Massnahme zur Kapazitätsvergrösserung diente die Umspurung auf Normalspur Wieselburg - Gresten im Jahre 1998. Pläne Anfang der 2000er Jahre, die Talstrecke umzuspuren, wurden nicht verwirklicht. Am 29.9.1988 erfolgte die Kompletteinstellung des Verkehrs Mariazell - Gußwerk, die Gleise wurde ab 2003 abgetragen, die Schienen liegen aktuell (2008/2010) tw. noch neben dem Bahndamm, die Oberleitungsmasten stehen noch, tw. hängt der Fahrdraht herab. Auf der Krumpe ist aktuell (noch) Personenverkehr bis Mank, der aber - Gerüchten zufolge - Ende 2010 eingestellt werden soll. Der Abschnitt Mank - Ruprechtshofen wurde ab 15.12. 2002 stillgelegt, der Abschnitt Ruprechtshofen - Wieselburg an der Erlauf bereits im Januar 2000 wegen völlig desolatem Zustand der Strecke (=Vorsätzliche Vernichtung von Volksvermögen). Fazit: Die Mariazellerbahn ist eine höchst interessante und besuchenswerte Strecke. Vor allem die Bergstrecke sucht ihresgleichen, die dichte Abfolge an Tunnels, Brücken und Viadukten während der Fahrt durch teilweise unberührte Natur sowie prächtigem Blick auf das Ötschermassiv stellen ein Highlight unter den Bahnen Europas dar. Allerdings fehlt es in Österreich - im Gegensatz bspw. zur Schweiz -an einem durchdachten, nachhaltigen und von der Politik getragenen Konzept.
Jahrelang wurde kaum was in die Strecke investiert, die Folge sind zahlreiche Langsamfahrstellen sowie eine teilweise äusserst "ruppige" und eher unbequeme Fahrt - für den Touristen mag dies noch einen Erlebniswert haben, für den täglichen Pendler ist das eine Zumutung. Es gibt keinen wirklichen Taktverkehr, 5 durchgehende tägliche Verbindungen, wobei der letzte Zug um 16.41!!! St. Pölten Richtung Mariazell verlässt. Auf der Talstrecke gibt es verdichteten Verkehr. Als touristische Massnahme fährt seit einigen Jahren der "Ötscherbär" mit 1. Klasse und Bordverpflegung, im Grunde eine gute Idee, aber als singuläre Massnahme ("Insellösung") nur von marginaler Nachhaltigkeit. Die Schuld für dieses Versagen dem Betreiber, also der ÖBB, anzulasten, greift zu kurz - es ist ein Total-Versagen der Politik, die in Sonntagsreden zwar vom nachhaltigen, sanften Tourismus redet, die von CO2-Reduktion faselt und ein "Weg von der Strasse, hin zur Schiene" im Bierzelt verkündet, aber ein aktive, agierende Politik mit konkreten, "behirnten" Konzepten gibt es so gut wie nicht. Es wird nur - wenn es nicht mehr anders geht - hüftschussartig reagiert statt präventiv agiert (wie übrigens in vielen anderen Politikfeldern auch), meist mit einer weiteren Ausdünnung und "Unattraktivierung" des Angebotes bis hin zu einer Stillegung der Strecke. Mit Ende 2010 endet die Ära der Staatsbahn auf der Mariazellerbahn ebenso wie auf der Krumpe, das Land Niederösterreich ist wieder wie schon bis 1922/1935 Betreiber und Eigentümer der Strecke. Allerdings könnte die Mariazellerbahn ebenso wie anderen Linien in NÖ (Ybbstalbahn, Wachauerbahn..) dann "vom Regen in die Traufe" kommen (Stichwort: "Wintersperre") - denn offensichtlich gibt es auch im Land NÖ bei den zuständigen Politikern weder Kompetenz noch Kreativität, es fehlen Politiker, die "ganzheitlich" zu denken gelernt haben und den Betrieb einer Eisenbahn "volkswirtschaftlich" zu bilanzieren verstehen - von Willen oder Herzblut ganz zu schweigen. Aber wie heisst es so schön: "Ein Volk hat immer die Politiker, die es sich verdient" - Armes Österreich, arme Mariazellerbahn.... Teil 2: Die Mariazellerbahn heute >>>
Literatur: Wegenstein, Peter und Bogner Helmut, 1999: Mariazellerbahn und „Krumpe“. Bahn im Bild 204 Röll, Victor, Freiherr von, 1915: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 7, S. 244-245 Webtip: www.mariazellerbahn.at Sollten Sie Anregungen zu den Projekten haben oder eigene Beiträge oder Fotos präsentieren wollen, so freuen wir uns auf eine Kontaktaufnahme. Haben Sie einen Fehler entdeckt? Bitte um Info > redaktion@dokumentationszentrum-eisenbahnforschung.org Bericht von: Dr. Michael Populorum, Chefredakteur DEEF; Erstmals online publiziert: 25. September 2010; Änderungen: 8.6.2020 |
Last modified
Montag, 08. Juni 2020 22:13:35 +0200
Autor/F.d.I.v.: Kons. Univ. Lekt. Dr. Michael Alexander Populorum DEEF # Dokumentationszentrum für Europäische Eisenbahnforschung #
Railway Research Austria 2009-2020